22.09. – 16.10.2022
Der steirische herbst startet eine künstlerische Spezialoperation zur Befreiung aus der Verblendung.
„Bella gerant alii, tu felix Austria nube.“ Der politische Leitspruch des Habsburgers Maximilian I wirkt bis in die Gegenwart des neutralen Österreich. Kriege? Gehen uns nichts an. Und was das Heiraten anlangt: Die frühere Außenministerin hat den „Zaren“ zwar nicht geheiratet, aber bei ihrer Hochzeit zumindest das Knie vor ihm gebeugt.
Ekaterina Degot, die Intendantin des steirischen herbst, rückt mit ihrem diesjährigen Programm des Festivals die Perspektiven zurecht. So fern ist dieser „Krieg in der Ferne“, mit dem gerade das Staatsmodell der freien, pluralistischen, rechtsstaatlichen Demokratie als solches angegriffen wird, nämlich nicht.
Um das Bewusstsein für ignorierte oder geleugnete Kriege zu schärfen, inszeniert das Festival ein „kunsthistorisches Museum der speziellen Art“, wie Degot es nennt. In der zentralen Ausstellung des diesjährigen steirischen herbst „Ein Krieg in der Ferne“ in der Neuen Galerie in Graz werden auf den ersten Blick arglos wirkende Arbeiten des 19. und 20. Jahrhunderts zeitgenössischen Kunstprojekten gegenübergestellt. Mit dieser Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart werden auch Verschleierungsstrategien verborgener Konflikte und Kriegsführung erkennbar gemacht und so auch der Blick für die politische Gegenwart geschärft. Teilnehmende Künstler:innen sind unter anderen Gabriel Abrantes, Friederike Anders, Keti Chukhrov, Josef Dabernig, oder Jannik Franzen. Dieser geschärfte Blick auf verborgene Formen der Kriegsführung könnte vielleicht auch für jene westeuropäischen Politiker:innen „erkenntnisreich“ sein, die die gezielten Angriffe auf das demokratische, politische Modell der Europäischen Union und des „Westens“ in seiner Gesamtheit durch hybride Formen der Kriegsführung und den Einsatz von Energie und Lebensmittelverknappung als Waffe, die Propagandamanipulationen von Wahlen oder des Brexit, die Cyberangriffe auf kritische Infrastruktur der EU und anderer Länder, die Giftmorde, die Söldnerarmeen in Afrikanischen Ländern und in Syrien, die dadurch ausgelösten Flüchtlingswellen, die die EU spalten und destabilisieren, die finanzielle und logistische Unterstützung rechtsextremer Parteien in Europa etc. nicht als das zu erkennen und anzuerkennen bereit sind, was es nicht nur in der Ukraine sondern praktisch überall in der demokratischen Welt längst ist. Wer meint, die westlichen Sanktionen seien „nur mit einer Gehirnhälfte gedacht“ und müssten gelockert werden, weil sie (selbstverständlich) auch uns wirtschaftlich schaden, fordert in diesem Licht betrachtet die Aufgabe des politologischen Grundsatzes der „wehrhaften Demokratie“ und stellt damit in letzter Konsequenz die demokratische Staatsform per se zur Disposition.
Nachdem in die politische Geschlossenheit gegen diesen fundamentalen Angriff auf unser freies demokratisches Lebensmodell gerade von Populisten und Merkantilisten bedrohliche Risse gesprengt werden, setzt der steirische herbst auf künstlerische Formen des Widerstands.
Künstlerischer Widerstand gegen alle Hindernisse, auch gegen die des Krieges, ist Gegenstand der Performance „The Theatricality of a Postponed Death“ von Raed Yassin bei der Festivaleröffnung. Als bedeutende Weiterentwicklung seiner künstlerischen und musikalischen Praxis nimmt sie die Form eines Trauerzugs mit Blaskapelle an und erinnert an einen theatralen Puppenumzug, der in den 1980ern in Beirut stattfand, als im Libanon der Bürgerkrieg tobte. Der von Regisseur Raif Karam organisierte Umzug protestierte nicht nur gegen die verheerende Kriegssituation, sondern hinterfragte auch die Beschränkungen des Theaters selbst. Das „Theater im Bahnhof“ nimmt die Ignoranz des Kapitals ins Visier: Auf Klimawandel und näher rückende Kriege kann es in Graz nur eine Antwort geben: weiterbauen. Mitten im Stadtzentrum gibt es sogar eine erprobt krisenfeste Immobilie mit Nachverdichtungspotenzial: Die Schlossbergstollen. So denkt zumindest die vom Theater im Bahnhof imaginierte Immobilienfirma in der Produktion „Unterirdische Träume werden wahr – in Graz!!!“ Wer also der Realität nicht ins Auge blicken und sich lieber in einer unterirdischen Luxusimmobilie verstecken will, hat beim diesjährigen steirischen herbst die Gelegenheit dazu.
steirischer herbst 2022
22.09. – 16.10.2022
Various locations Graz / Steiermark
www.steirischerherbst.at