Perspektiven an der Schnittstelle zwischen Kunst und Kreativwirtschaft
— Christoph Thun-Hohenstein
Neue Ideen kommen „von unten“. Start-up-Förderung liegt daher im Trend der Zeit. Damit werden vor allem wirtschaftspolitische Hoffnungen verknüpft. Aber sind die damit verbundenen wirtschaftspolitischen Erwartungshaltungen tatsächlich realistisch? Übersieht man nicht vielleicht gerade wegen dieser Fokussierung auf den wirtschaftlichen Aspekt kreativer Leistungen die eigentlichen Potenziale der Kreativen?
Ist die von Kunst inspirierte Kreativwirtschaft Wachstumsmotor auf dem Weg in eine posthumane exponentielle Steigerungsgesellschaft oder in ein humanistisch geprägtes Qualitätswachstum?
Die Frage mag ungewöhnlich erscheinen, eignet sich in ihrer Zuspitzung jedoch als Ausgangspunkt für eine Darstellung wesentlicher Potenziale der Kunst und Kreativwirtschaft – und damit der Kunstschaffenden und Kreativen – zur Förderung positiven Wandels. Wer allerdings klare Definitionen von Kunst und Kreativwirtschaft erwartet, wird enttäuscht, denn die Grenzen sind fließend (was auch als Vorteil gesehen werden kann).¹
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Unterscheidung zwischen der „hohen” Bildenden Kunst, die inhaltlich frei ist und keinen unmittelbaren Nutzen generieren muss, und der funktions- und gebrauchsorientierten und damit lebensnäheren angewandten Kunst, zu der insbesondere auch Mode, Design und Architektur zählen. Erwartungsgemäß gehen von der Bildenden Kunst wesentliche inhaltliche Impulse auf die Kreativwirtschaft aus, erfreulicherweise fließt die Inspiration aber ebenso üppig in die Gegenrichtung.
Nun leben wir aber nicht in einer Zeit von business as usual, sondern in den Anfängen einer neuen Moderne, die von allumfassender Digitalisierung und damit von exponentieller Steigerungsdynamik geprägt ist. Einige Stichwörter geben eine eindringliche Vorstellung dessen, wohin die Reise in der Digitalen Moderne geht: Big Data, Predictive Algorithms, Internet der Dinge, digitale wirtschaftliche Vermessung sowie Überwachung (der gläserne Mensch), Robotik, Superintelligenz, Human Enhancement / Intellectual Amplification, Singularity, Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality, Nanotechnologie, digital vorangetriebene Genetik und synthetische Biologie im Sinn gezielter Herstellung neuer Organismen; Internet of Everything – von den dadurch ermöglichten Spielwiesen für Cyberkriminalität gar nicht zu reden.² Im Gegensatz zur letzten westlichen Moderne, die von den Anfängen der Industrialisierung bis weit in das 20. Jahrhundert verhandelt wurde, haben wir es heute mit einer fast explosionsartigen Instant Modernity zu tun, die nichts weniger als die Zukunft des Menschen selbst zur Diskussion stellt.
Es steht außer Zweifel, dass die Digitalisierung neben großen Risiken wie der Automatisierung manueller und geistiger menschlicher Arbeit weltweit auch enorme Potenziale, etwa im Bildungswesen, aufweist. Ihre wahren Qualitäten werden vor allem daran zu messen sein, wie und mit welchem sozialen Anspruch sie Mensch und Gesellschaft in der Digitalen Moderne transformiert, wie sie Inklusion ermöglicht, die Kluft zwischen Arm und Reich verringert, die sich verschärfenden Generationenkonflikte löst und wie sie den Klimawandel bekämpft.
Eine neue Zeit erfordert neue Wege. Angesichts sinkender öffentlicher Budgets geht die Bedeutung von top-down-Steuerung zurück, es entstehen neuartige Handlungsspielräume für bottom-up- Initiativen. Gegenwärtig wird in aller Welt der Start-up-Kultur, deren globale Verherrlichung von Silicon Valley ausging und -geht, am ehesten zugetraut, die Wachstumschancen der Digitalen Moderne zu nützen und damit den Wohlstand für die Zukunft zu sichern. Dieser Kult sollte aber nicht zum Schluss verleiten, dass eine inhaltsneutrale Förderung von Start-ups automatisch positiven Wandel bewirkt. Start-ups zeichnen sich durch zwei Merkmale aus: Nämlich Innovation und Potenzial zu raschem Wachstum, die aber beide nichts über die Richtung der durch Start-ups ausgelösten Veränderungen aussagen. Mit anderen Worten: Durch Digitalisierung beflügelte Geschäftsmodelle können positiven und/oder negativen Wandel bewirken. Start-ups vermögen ihr positives Potenzial dann am besten zu entfalten, wenn sie von einer qualifizierten gesellschaftlichen Erwartungshaltung befeuert werden, die sich nicht (nur) durch Profite, sondern vor allem durch einen hohen Gemeinwohlfaktor beeindrucken läßt. Dessen inhaltliche Prüfung wäre umso wichtiger, als die aktuelle, speziell von Peter Thiel propagierte Invest-Philosophie des Silicon Valley (in den Innovationszentren Chinas wird das ähnlich gesehen) nicht Wettbewerb predigt, sondern die Schaffung jahrzehntelanger Monopole.³ Dass eine überschaubare Anzahl digitaler Monopolunternehmen künftig in den verschiedenen Lebensbereichen steuerschonend das weltweite Geschäft macht, kann weder im Interesse der Politik noch der klein- und mittelständischen Wirtschaft und schon gar nicht der Gesellschaft sein. Ganz im Gegenteil geht es darum, nachhaltige Lebensqualität auf Basis von regionaler Vielfalt und gemeinsamen Werten sicherzustellen. In diesem Sinn brauchen wir eine stärkere Re-Dezentralisierung des Internets als Ausgleich zum globalen Winner-takes-all.
Es ist kein Zufall, dass viele Start-ups der Kreativwirtschaft zuzurechnen sind, werden doch den Kreativen (aber auch speziell jüngeren Kunstschaffenden) neben der Kreativität gerne folgende Charaktereigenschaften zugeschrieben: Innovation, Flexibilität, Vernetzung, Kooperation, Resilienz, Resonanz, Wissensintensität/-transfer, Technologieaffinität, Kundenorientierung und Internationalität. Das sind exzellente Voraussetzungen. Um die Welt nachhaltig zum Positiven zu verändern, braucht es aber hohe inhaltliche Qualitäten.
Wie bedeutsame Bewegungen einer früheren Moderne, etwa das Bauhaus in Deutschland, gezeigt haben, geht es in Zeiten eines fundamentalen Umbruchs nicht nur um neue Formen, sondern vor allem um neue Inhalte, ja die Suche nach dem neuen Menschen. Lebenswerte Zukunft kann heute nur mehr mit einem ganzheitlichen Ansatz erarbeitet werden, das heißt, jeder positive Teilansatz muss mit dem Ganzen harmonieren und mit Teilansätzen in anderen Bereichen kompatibel sein.
Das digitale Zeitalter hat menschlicher Kreativität gegenwärtig ein window of opportunity geöffnet, von dem niemand weiß, wie lange es offen steht. Gerade angesichts allumfassender Digitalisierung entpuppt sich unberechenbare Kreativität als jene Qualität, die uns Menschen von Rechnern und anderen Maschinen unterscheidet. Für menschliche Kreativität muss auch in Zukunft – wenn etwa das Internet der Dinge seine derzeit noch kaum vorstellbare Dynamik ausspielt – ausreichend Raum bleiben. Angesichts der vom deutschen Soziologen Hartmut Rosa meisterhaft herausgearbeiteten Notwendigkeit von Resonanz4 erscheinen wiederum die Kunstschaffenden und Kreativen besonders geeignet, die heute vielfach stummen Weltbeziehungen in resonante zu verwandeln. Sie sind somit Hoffnungsträger_innen, die Kreativität und Innovation verbinden, um modellhafte Initiativen und Aktionen für eine nachhaltige, am Gemeinwohl ausgerichtete und resonante Digitale Moderne zu erarbeiten. Eine aufgeklärte neue Moderne, in der Wachstum einen positiven Wandel von der quantitativen Steigerungsdynamik der heutigen Wegwerfgesellschaft zu Kreislaufwirtschaft und Qualitätswachstum vollzieht! Eine aufgeklärte neue Moderne, in der digitaler Größenwahn, wie die vielerorts erhoffte Ver- schmelzung von Mensch und Maschine, überwunden wird und ein positiver Wandel zur humanistischen Wertegemeinschaft eingeleitet ist!
Die derzeit zu recht bestehende Euphorie des bottom-up ermöglicht es Kunstschaffenden und Kreativen somit, zu Bio-Aktivist_innen zu werden, gleich ob sie sich als Start-ups, (andere) Unternehmer_innen, social entrepreneurs oder sonstige Moderator_innen für positiven Wandel verstehen – wobei bio hier vor allem kreatives Eintreten für das Menschliche in der digitalen Gesellschaft meint. Wir brauchen Künstler_innen und Kreative für die Schaffung eines neuen Digitalen Humanismus und damit als Wegbereiter_innen eines aufgeklärten, sozial verantwortungsvollen Digitalbürgertums. Wir erwarten von ihnen – nicht zuletzt durch Reibung zwischen Kunst und Kreativwirtschaft – eine neue Vision für den Mainstream von morgen (zur Überwindung der Wutgesellschaft von heute). Das Gelingen dieses Kunststücks setzt eine konstruktive öffentliche Hand voraus, die sinnstiftende bottom-up-Aktivitäten nicht nur erlaubt, sondern klug fördert, antreibt und begleitet.
Österreich hat beste Voraussetzungen, eine Art Modellregion einer aufgeklärten Digitalen Moderne zu werden. Zunehmend innovationsfreudig, aber dennoch stabilen Werten verpflichtet, ist es ein kompaktes, in die EU eingebettetes, weltoffenes demokratisches Land mit starker Exportwirtschaft, in dem Kunst und Kultur seit jeher höchsten Stellenwert genießen. Die Tür zu einer neuen, Digitalen Wiener Moderne, die von Kunst und Kreativwirtschaft maßgeblich befruchtet wird, steht weit offen.
Der Autor
Christoph Thun-Hohenstein (geb. 1960) ist seit 1. September 2011 Direktor des MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/ Gegenwartskunst. Für das Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten der Republik Österreich hatte er Auslandsposten in Abidjan, Genf und Bonn inne. Von 1999 bis 2007 war er Direktor des Austrian Cultural Forums New York, danach fungierte er als Geschäftsführer von
departure, der Kreativagentur der Stadt Wien. Christoph Thun-Hohenstein publizierte insbesondere zur Europäischen Integration sowie zu Themen zeitgenössischer Kultur und Kunst und hielt in diesen Bereichen auch zahlreiche Vorträge. Er hat Ausstellungen zeitgenössischer Kunst kuratiert und übt regelmäßig Jury-Tätigkeiten aus.
1 Ich selbst leitete vor dem MAK von 2007 bis 2011 departure, die Kreativagentur der Stadt Wien, die 2003 als erste österreichische Einrichtung zur Förderung der Kreativwirtschaft (CREATIVE INDUSTRIES) im Sinn der Unterstützung der wirtschaftlichen Verwertung innovativen und kreativen Schaffens in Wien gegründet wor den war, und zwar für folgende Bereiche: Musikwirtschaft, Architektur, Literatur/Verlagswesen, Printmedien, Audiovisuelles, Bildende Kunst und Kunstmarkt, Mode, Design, Grafik, Multimedia, Software, Games, Internet, ferner sog. „Services for Creative Industries”. Im Gegensatz zu departure rechnet etwa die Kreativwirtschaft Austria auch die Werbung und den „Markt für darstellende Kunst” zur Kreativwirtschaft, nicht aber die Bilden de Kunst und den Kunstmarkt. 2 Vgl. etwa Marc Goodman: Inside the Digital Underground and the Battle for Our Connected World, London: Future Crimes 2015. 3 Vgl. Peter Thiel (with Blake Masters): Notes on Start-ups, or How to Build the Future, New York: Zero to One 2014. 4 Vgl. Hartmut Rosa: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Resonanz 2016.