Ernährungssysteme neu denken
— Irmi Salzer
Wie kann es gelingen, ein Agrar- und Lebensmittelsystem zu entwickeln, das den Menschen in allen Regionen der Welt eine faire und autonome Chance bietet? Welche Konzepte und Ideen liegen dafür schon vor und welche Rolle spielen dabei kreative Herangehensweisen auf lokaler und globaler Ebene?
Die globale Bewegung für Ernährungssouveränität arbeitet an einer grundlegenden Veränderung unseres Agrar- und Ernährungssystems. Lebensmittelproduktion und -verteilung müssen demokratisiert und neu organisiert werden.
Unser Agrar- und Ernährungssystem steckt in einer multiplen Krise. Diese Krise, welche nur in Wechselwirkung mit vielen anderen Krisen (der Finanzmarkt-, Energie-, Klima-, Rohstoff-, Wirtschafts-, Demokratiekrise etc.) zu begreifen ist, manifestiert sich einerseits darin, dass weltweit ca. 900 Mio. Menschen hungern – und dies nicht nur in Entwicklungs- und Schwellenländern. Sie äußert sich anderer- seits in dem Umstand, dass auch und gerade in Industrieländern immer mehr Menschen keinen Zugang zu qualitativ hochwertiger, kulturell angepasster und abwechslungsreicher Nahrung haben. Dass es in der EU und in den USA, die beide durch ihre Exporte in Länder des globalen Südens zum dortigen Hungerproblem beitragen, zu Lebensmittelarmut kommt, ist eine Folge sinkender Löhne, steigender Arbeitslosigkeit und der Erodierung sozialstaatlicher Systeme, aber auch Ausdruck eines hochgradig an Profitinteressen ausgerichteten Agrar- und Lebensmittelsystems.
Ernährungssouveränität – für ein anderes Agrar- und Lebensmittelsystem weltweit!
Das Konzept der Ernährungssouveränität wurde 1996 beim Welternährungsgipfel der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) von La Via Campesina, dem weltweiten Bündnis von Kleinbauern und -bäuerinnen, Landarbeiter_innen, Fischer_innen, Landlosen und Indigenen vorgestellt. Seit damals ist es das politische Leitmotiv einer wachsenden Anzahl von Akteur_innen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sektoren: Bewegungen, Initiativen und Organisationen aus dem bäuerlichen Bereich, aus der Umweltschutzszene, Menschenrechtsorganisationen, Konsument_innen- und Frauenbewegungen, aber auch urbane Bewegungen weltweit kämpfen für eine grundlegende Umgestaltung unseres Agrar- und Ernährungssystems.
Ernährungssouveränität ist ein richtungsweisender Rahmen, der laufend an die jeweiligen sozialen, ökonomischen und räumlichen Herausforderungen angepasst und demokratisch weiterentwickelt werden muss. Seinen Ursprung hat das Konzept in der Kritik des technischen und von Institutionen wie der FAO oder der Weltbank verwendeten Begriffs der Ernährungssicherheit, der Produktionsbedingungen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Agrar- und Ernährungssystem ausblendet. Eine Landwirtschaft, die auf Monokulturen und industrieller Massentierhaltung basiert, die Boden und Wasser belastet sowie das Klima schädigt und die Migrant_innen als schlechtbezahlte und in prekären Verhältnissen lebende Arbeitskräfte benötigt, könnte demnach genauso Ernährungssicherheit gewährleisten wie eine nachhaltige, kreislaufbasierte und auf schonender Nutzung von Ressourcen aufbauende Form der Landbewirtschaftung.
Demgegenüber ist Ernährungssouveränität das Recht aller Menschen auf gutes und kulturell angepasstes Essen, das mittels nachhaltiger Produktionsmethoden hergestellt wurde, sowie das Recht der Menschen, Nationen und Staatengemeinschaften, ihre Ernährungs- und Agrarpolitik selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität beruht auf der Etablierung von lokalen bzw. regionalen Produktionssystemen, die auf vielfältige Art und Weise miteinander vernetzt sind, der Stärkung der lokalen Kontrolle, der Mitgestaltung und der internationalen Solidarität – somit auf einer tief greifenden Demokratisierung der sozialen, ökologischen und ökonomischen Verhältnisse, die das Landwirtschafts- und Ernährungssystem prägen.
Ernährungssouveränität in der Praxis – Tradition, Innovation und Kreativität
Initiativen und Bewegungen, die Ernährungssouveränität als alltägliche Praxis herstellen und verankern wollen, geht es darum, Verantwortung zu übernehmen – für unsere Lebensgrundlagen, für zukünftige Generationen, aber auch und vor allem für die gegenwärtige Verfasstheit unseres Agrar- und Lebensmittelsystems. Indem sie alternative Praktiken (weiter)entwickeln, arbeiten sie an einem emanzipatorischen Gesellschaftsmodell, das auf ein solidarisches Miteinander ausgerichtet ist.
Die Praktiken der Ernährungssouveränität existieren auf lokaler, regionaler und globaler Ebene: Im Bereich der Produktion werden anpassungsfähige (resiliente) agroökologische Produktionsweisen erprobt, die beispielsweise samenfestes, regional angepasstes und gentechnikfreies Saatgut sowie angepasste Technologien verwenden, die Erdölabhängigkeit der landwirtschaftlichen Produktion reduzieren und auf Kreisläufen basieren. Produktivitätsfortschritte, die insbesondere im globalen Süden erzielt werden müssen, beruhen auf der Förderung und Entwicklung der bäuerlichen Landwirtschaft. Innovative und partizipative Aus- und Weiterbildungsangebote, die traditionelles Wissen gleichwertig einbeziehen, spielen dabei eine wesentliche Rolle. Nicht zuletzt geht es um den Aufbau und die Weiterentwicklung von urbanen Landwirtschaftskonzepten.
Im Bereich der Lebensmittelversorgung bzw. -verteilung werden Produzent_innen-Konsument_innennetzwerke aufgebaut, indem z.B. herkömmliche Märkte durch solidarische Beziehungen ersetzt werden. So werden zum Beispiel in CSA-Projekten (Community Supported Agriculture, Solidarische Landwirtschaft¹) Produkte und Preise voneinander entkoppelt, das Risiko (wie z.B. Ernteausfälle) wird von den Produzent_innen und den Mitgliedern der Initiative gemeinsam getragen. Einkaufsgemeinschaften, die sogenannten Foodcoops, beruhen auf dem ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder und versuchen, ein existenzsicherndes Einkommen für die Produzent_innen zu garantieren. In vielen derartigen Initiativen werden Überschüsse gemeinsam verarbeitet und unter denen verteilt, die sie brauchen. Um Teilhabe und Inklusion aller zu ermöglichen, werden Preise solidarisch gestaltet, Mitgliedsbeiträge gestaffelt oder die Initiativen funktionieren überhaupt nach dem Prinzip „Jede_r gibt, was sie_er kann (und nimmt, was sie_er braucht)“. Auf Vertrauen und gegenseitiger Beratung basierende gemeinschaftliche Zertifizierungssysteme (Participatory Guarantee Systems, PGS²) ersetzen staatliche Kontrolle, kreative Direktvermarktungskonzepte wie z.B. Anteilsmodelle („Schafaktien“³, Tierpatenschaften, „Käse statt Zinsen“⁴, Quadratmeterkauf⁵) gewährleisten die Existenz auch kleiner Betriebe und beziehen die Konsumierenden in die Verantwortung mit ein.
Um den Wettlauf um Grund und Boden zu unterbrechen und den Zugang zu Land für all jene, die es bewirtschaften wollen, zu ermöglichen, werden Modelle entwickelt, die Land dem kapitalistischen Verwertungskreislauf entziehen und gemeinschaftliche Nutzungsformen (Commons) befördern. Um den Zugang zu Ressourcen zu gewährleisten und alternative Modelle der sozialen Organisation zu erproben, werden unter anderem Pflanzen- und Saatguttauschmärkte organisiert, interkulturelle Gärten und Volxküchen gegründet, Gemeinschaftshöfe und Kooperationen von Bäuerinnen und Bauern aufgebaut, gemeinschaftliche Pflanzaktionen und Landbesetzungen durchgeführt, etc.
Durch die Ermöglichung emanzipatorischer Prozesse sollen Bürger_innen dazu befähigt werden, gleichberechtigt und aktiv an der Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen des Agrar- und Ernährungssystems teilhaben zu können. Basisorientierte politische Bildungsarbeit, gemeinsames Lernen und kollektives politisches Handeln sowie alternative Bildungsnetzwerke sorgen für Wissensweitergabe „auf Augenhöhe“ und schaffen Begegnungsräume für alle Beteiligten des Agrar- und Lebensmittelsystems.
Trotz ihres Erfindungsreichtums, ihres Engagements und ihrer wachsenden Zahl sind die Initiativen und Bewegungen für Ernährungssouveränität noch nicht in der Lage, dem kapitalistischen Agrar- und Ernährungssystem und seinen Exklusions- und Repressionsmechanismen Einhalt zu gebieten. Voneinander zu lernen, Erfahrungen verfügbar zu machen, Austausch zu praktizieren, Solidarität und Mut, Einsatzbereitschaft und Kreativität zu zeigen – das sind wesentliche Anforderungen für eine Bewegung, die sich nicht nur „gutes Essen“, sondern „gutes Leben für alle“ zum Ziel gesetzt hat. Oder, wie es die Teilnehmer_innen des ersten europäischen Forums für Ernährungssouveränität „Nyéléni Europa 2011“ in Krems formulierten: „Wir sind davon überzeugt, dass Ernährungssouveränität nicht nur ein Schritt hin zur Veränderung unserer Lebensmittel- und Agrarsysteme ist, sondern auch ein erster Schritt hin zu einem breiteren Wandel unserer Gesellschaften“ (Deklaration von Nyéléni Europa, August 2011⁶).
Die Autorin
DIin Irmi Salzer hat Landschaftsplanung an der Universität für Bodenkultur in Wien studiert. Seit 2002 betreibt sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und drei Kindern eine kleine Biolandwirtschaft im Südburgenland, seit 2006 ist sie Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der ÖBV-Via Campesina Austria. In dieser Funktion ist sie Mitglied der Plattformen „TTIP stoppen“ und der Plattform „Wir haben es satt!“ und arbeitet an einer sozial gerechten und ökologischen Neuorientierung des Agrar- und Ernährungssystems.
1 CSA= Community Supported Agriculture, Online URL: www.solidarische-landwirtschaft.org/ (Stand: 01.09.2016). 2 Online URL: http://www.ifoam.bio/en/organic-policy-guarantee/participatory-guarantee-systems-pgs (Stand: 01.09.2016). 3 Online URL: http://bioschaf.at/schaf-aktie/ (Stand: 01.09.2016). 4 Online URL: http://kaslabn.at/ (Stand: 01.09.2016). 5 Online URL: http://www.labonca.at/genussscheine/ (Stand: 01.09.2016). 6 Online URL: http://www.nyelenieurope.net/publications/nyeleni-europe-declaration-2011 (Stand: 01.09.2016).