Wo es Kreative hin zieht
— Hansjürgen Schmölzer
Der Wettbewerb um „die Kreativen“ ist global geworden. Jede Stadt, jede Region, jeder Staat umwirbt sie. Diese Menschen sind auch hochmobil. Es stellt sich also die Frage, welche Rahmenbedingungen Orte bieten müssen, um für „Kreative“ attraktiv zu sein. Kann man sie mit dem Versprechen von Arbeitsplätzen und Geld überhaupt noch locken? Oder sind es ganz andere Faktoren, die von Bedeutung sind, wie Meinungs- und Medienfreiheit, offene, demokratische und multikulturelle Gesellschaften, Stadtplanung, Baukultur oder die Musikszene einer Stadt? Eines scheint sich jedenfalls abzuzeichnen: „Silicon Valley“ ist heute schon von gestern.
Der frühere Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit hat im Jahr 2003 mit seinem Ausspruch „Berlin ist arm aber sexy“¹ nicht nur den damaligen sozioökonomischen Zustand und Zeitgeist der Stadt treffend beschrieben. Er hat damit nebenbei auch die kürzest mögliche Formel gefunden, um die erstaunliche Anziehungskraft Berlins auf Kreative aus aller Welt zu charakterisieren.
Der Satz verdichtet nahezu alle Elemente, die der amerikanische Ökonom und Politologe Richard Florida in seiner mittlerweile zum Standardwerk avancierten Publikation „The Rise of the Creative Class“² als ausschlaggebende Parameter für die Anziehungskraft von Städten auf Kreative identifiziert hat: Eine offene, tolerante, multikulturelle Gesellschaft. Eine lebendige Kulturszene mit einer großen Dichte an Kreativen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Den ungehinderten Zugang zu modernen Technologien. Florida nennt es die Drei T´s: Tolerance. Talent. Technology.
Extrem vereinfacht ließe sich die Attraktivität von Städten für Kreative nach Florida vor allem anhand von zwei Schlüsselindikatoren beurteilen: Wie lebendig ist die Musikszene dieser Stadt? Und wie tolerant ist die Stadt gegenüber ihrer Gay-Community? Seit dem ersten Erscheinen von Floridas Buch und Wowereits Ausspruch ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Und in dieser Zeit haben sich sowohl die sozioökonomischen Rahmenbedingungen als auch die vorherrschenden kulturellen Werte innerhalb der Milieus dieser sogenannten Kreativen und der Gesellschaft, die sie umgibt, deutlich verschoben.
Die Weltfinanzkrise, der fundamentalistische Terror und – vor allem aus europäischer Perspektive – die großen Migrationsbewegungen der Gegenwart haben zu einem Auseinanderdriften und einer Polarisierung der Gesellschaften in den wirtschaftlich höher entwickelten Ländern geführt und in einigen dieser Länder auch deutlich antidemokratische Züge angenommen.
Es braucht wenig Vorstellungskraft um sich ausmalen zu können, dass Städte wie Warschau oder Istanbul, denen man noch vor kurzer Zeit eine dynamische Zukunft als Creative Cities vorhergesagt hatte³, in näherer Zukunft für Kreative wohl nicht besonders anziehend wirken werden, wenn Meinungs- und Medienfreiheit, freie Forschung und Lehre, die Unabhängigkeit der Justiz und damit insgesamt eine offene und demokratische Gesellschaft zunehmend unter Druck geraten.
Die Weltfinanzkrise aber auch die Snowden-Veröffentlichungen haben die latent immer vorhandene kritische Distanz zwischen den Finanz-, Wirtschafts- und Politeliten einerseits und dem Intellektuell-Kreativen-Milieu andererseits wieder erheblich vergrößert.
Gleichzeitig treiben rechtspopulistische und nationalistische Strömungen sowohl in Europa als auch in Nordamerika die aktuell Regierenden in den westlichen Demokratien vor sich her. Und zwar in eine Richtung, die auf die weit überwiegende Mehrheit dieses kreativen Milieus zusätzlich distanzierend wirkt.
Das alles ist also nicht ohne Einfluss auf den Wettlauf um kreative Köpfe, der inzwischen zu einem globalisierten Wettbewerb geworden ist. Gerade Länder mit geringen Rohstoffressourcen sehen in den Kreativen ja einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren für ihre zukünftige Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung. Kreative als Produktionsmittel sozusagen. Aber eines, das man sich nicht einfach kaufen kann.
Um der Frage nachgehen zu können, welche Rahmenbedingungen Orte aufweisen müssen damit sie auf „die Kreativen“ anziehend zu wirken, sollte man zunächst klären, von welchen Personengruppen da überhaupt die Rede ist:
Wenn man unter den Kreativen nicht nur jene versteht, die im engeren Sinn im Kultur-, Kunst- oder Kreativwirtschaftsbereich tätig sind, sondern auch all jene, die ihren Alltag und/oder ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, dass sie eigenständige Denk- oder Kreationsleistungen hervorbringen, von Wissenschaftlern, Softwareentwicklern, Ingenieuren bis hin zu Journalisten und jenen, die in diesen Bereichen noch in Ausbildung stehen, dann beträgt ihr Anteil an der erwachsenen Bevölkerung in vielen Stadt- und Metropolregionen der industrialisierten Länder oft schon mehr als 50 %.⁴
Kreative sind hochmobil
Richard Florida bezeichnet diese Personengruppe als Creative Class. Diese Menschen sind überdurchschnittlich gebildet und vor allem auch überdurchschnittlich mobil. Ihr sozioökonomischer Hintergrund ist dermaßen breit gefächert, dass die Anwendung des Begriffs einer sozialen Klasse etwa im Sinne Dahrendorfs⁵ oder Bourdieus⁶ nicht brauchbar funktioniert. Ich schlage deshalb vor, in weiterer Folge besser von den Mobile Creatives⁷ zu sprechen. Denn sie gehören zu den mobilsten Gruppen der Weltbevölkerung. Ihre Mobilitätsanlässe sind vielfältigster Natur und von unterschiedlicher Dauer: neben einer quantitativ hohen Zahl privater Reisen auch Konferenzteilnahmen, Projektaufträge, Künstlerische Engagements, Forschungsaufenthalte, Gastsemester, Tourneen, Recherchen, Fortbildungen, Auslandsstudien etc.. Bis hin zur vorübergehenden oder dauerhaften Verlegung des eigentlichen Lebensmittelpunktes.
Was zieht diese Menschen besonders an?
Die hohe Mobilitätsbereitschaft der Kreativen hat zu der Annahme verleitet, man müsste nur das nötige Kapital zur Verfügung stellen, um Technologien und Ausbildungsangebote an beliebigen Orten “Clustern” zu können um die Kreativen an zu ziehen. Die daraus hervorgehenden neu gegründeten Unternehmen – aufgepeppt mit einer an studentische Arbeitsweisen erinnernden Unternehmenskultur – wären dann Lockmittel genug. Die Erfolgsgeschichte des Silicon Valley der vergangenen Jahrzehnte bildete das role model dafür. Zwar pilgern auch gegenwärtig noch Wirtschaftsdelegationen von Provinzregierungen aus aller Welt im Wochentakt ins Silicon Valley um sich dort etwas abzukupfern. Aber sie studieren dort wohl schon ein Modell der Vergangenheit.
Denn viele Kreative wollen gar nicht mehr ins „Valley“ ziehen oder ziehen auch wieder weg. Selbst wenn sie dort vielleicht deutlich mehr verdienen könnten als in Berlin, Auckland, Barcelona, Wien oder Graz. Warum?
Die Wertewelten haben sich verändert.
Die Wertewelten haben sich in den vergangenen zehn Jahren deutlich verschoben. Nicht einmal mehr Stock-Options auf irgendwelche Start-up Unternehmen, mit der Aussicht als Endzwanziger nach einem allfälligen Börsengang zum Multimillionär werden zu können, können das noch hinreichend wettmachen. Zahlen- und bonifixierte Finanz- und Industriemanager und auch die Politik tun sich noch schwer damit, diesen Wertewandel zu verstehen. Der Spekulantentraum ist nach dem Platzen der Dotcom-Blase und der Finanzkrise in Verruf geraten und reizt nur mehr eine Minderheit unter den „Kreativen“. Stattdessen gewinnen die eigene Selbstverwirklichung, eine inspirierende Umgebung, die sich aus einem vielfältigen kulturellen Angebot und einer großen Diversität subkultureller Milieus vor Ort speist und Lebensgestaltungskonzepte, die nicht nur an wirtschaftlichem Erfolg orientiert sind, zunehmend an Bedeutung. Das verlangt notwendigerweise auch nach dichten multikulturellen urbanen Strukturen, die die Greenfield-Projekte des Silicon Valley mit ihren campusartigen Unternehmenskomplexen und den rundherum ausgebreiteten sozial weitgehend homogenisierten Schlaf-Wohn-Bungalowsiedlungen kaum zu bieten haben.
Christoph Kerschbaumer ist ein Beispiel für diesen einsetzenden Silicon-Valley-Exodus: Er ist einer der weltweit führenden Softwareentwickler für Browser-Content-Security und hat seine hochdotierte Position bei Mozilla in Kalifornien verlassen, um zurück nach Österreich zu gehen, weil die Lebens- und Freizeitqualität, das soziale Klima und kulturelle Angebot in Österreich für ihn weit attraktiver waren als an seinem früheren Arbeitsplatz. Weil man aber die besten Köpfe nicht so einfach ziehen lassen will, hat Mozilla für den Spezialisten eigens ein Unternehmen in Europa gegründet, nur um sein Know-How im Unternehmen halten zu können.
Das ist nur ein, und sicher auch ein zugespitztes Beispiel, das zeigt, dass sich die Verhältnisse umzukehren begonnen haben. Während früher die Kreativen an jene Orte gezogen sind, an denen die potenten Arbeitgeber in ihrem Bereich ihre großen Standorte hatten, müssen die Unternehmen im Wettbewerb um die besten Köpfe sich immer stärker dorthin bewegen, wo diese Menschen selbst auch gerne leben wollen. Und auch wirtschaftlich überleben können.
Eine der Hauptursachen für diese Dynamikumkehr – von einer Umkehr der Machtverhältnisse zu sprechen, wäre angesichts der prekären wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen viele Kreative heute leben, wohl ein Euphemismus – ist gerade im kreativen Millieu das weitgehende Verschwinden der Idee einer langandauernden, vielleicht sogar lebenslangen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung, wie wir sie noch aus dem Industriezeitalter gekannt haben.
Die heute in ihren Zwanziger-, Dreißiger- und Vierzigern befindlichen Digital Natives aus denen sich das Millieu der Kreativen weitgehend konstituiert, sind in einer Zeit aufgewachsen, wo sie gar nicht mehr die Lebenserfahrung einer dauerhaften Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemacht haben.
Die „Generation Praktikum“ ist mittlerweile zur „Generation Projektauftrag“ herangewachsen. Andererseits ist es gleichzeitig auch Ausdruck einer inneren Notwendigkeit für kreatives Arbeiten an sich und Teil eines ganz bewusst gewählten Lebensentwurfes vieler kreativer Menschen, sich nicht langfristig binden zu wollen. Ständig wechselnde Konstellationen, Aufgabenstellungen und Teamstrukturen sind schließlich auch Inspirationsquelle und Grundlage für die eigene kreative Weiterentwicklung.
Diese Umstände beeinflussen auch die Wahl des Lebensmittelpunktes von Kreativen. Während es früher genügt hat, dass ein potenter Arbeitgeber Kreative mit einem bestimmten Jobangebot an einen bestimmten Ort gelockt hat, ist das heute für diese Kreativen auch aus ganz pragmatischen Überlegungen bei Weitem nicht mehr ausreichend. Denn aus „fixen Jobs“ sind in zunehmendem Maße zeitlich oft knapp begrenzte Projektaufträge und Freelancerjobs geworden.
Um in einem solchen Umfeld auch wirtschaftlich überleben zu können, sind diese Kreativen auf die ideale Balance mehrerer Faktoren angewiesen: Eine ausreichende Anzahl mehrerer verschiedener Auftraggeber und Projektpartner vor Ort, damit auch Aussicht auf einen einigermaßen kontinuierlichen Auftragsflow verschiedener temporärer Projektaufträge besteht. Und auf überschaubare Lebenshaltungs- und Wohnkosten, damit man bei allfälligen Auftragslücken nicht sofort in existentielle Notlagen gerät.
Orte mit hohen Lebenshaltungskosten oder nur wenigen dominierenden Auftraggebern verlieren daher zunehmend an Attraktivität. Im hochpreisigen London ist dieser Abwanderungsdruck in manchen Bereichen der Kreativbranche bereits deutlich zu spüren:
Dem „arm aber sexy“ Berlin ist es beispielsweise in den vergangenen Jahren recht erfolgreich gelungen, nennenswerte Marktanteile des in der weltweiten Filmindustrie ständig wachsenden Post-Production- und Visual-Effects-Auftragsvolumens von der Themse an die Spree zu ziehen, weil die dafür nötigen hochqualifizierten Schlüsselkräfte lieber in dieser Stadt leben und sich das Leben dort auch leisten konnten. Erhebliche Auftragsvolumina auch der großen Hollywood-Produktionen sind – nicht nur wegen vereinzelter Steuerincentives – genau aus diesem Grund über den Atlantik nicht mehr nach London, sondern nach Berlin weiter gewandert. Aber die Berliner Wohnungsknappheit und damit einhergehend steigenden Lebenshaltungskosten werden vielleicht bald einen neuen Abwanderungsdruck in andere – günstigere – Städte zu erzeugen beginnen.
Kreative suchen Orte mit kultureller Vielfalt.
Das zunehmende Verschwinden von klassischen Vollzeitbeschäftigungen in diesem Segment ist gleichzeitig auch einher gegangen mit einer Verschiebung des eigenen Rollenverständnisses und Rollensettings im kreativen Bereich, das sich auch kulturell immer weiter von den traditionellen linearen Karrieremustern der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft entfernt. Mehrere verschiedene Tätigkeiten auszuüben und mehreren verschiedenen Jobs nachzugehen ist nicht nur eine Konsequenz wirtschaftlicher Notwendigkeit, sondern immer öfter auch Ausdruck der eigenen Selbstverwirklichungsinteressen. Grafiker verfolgen ihre Singer-Songwriter-Musikprojekte, Kommunikationsberater sperren nebenbei Kleinbrauereien auf, Journalisten gründen ihr eigenes Szenegetränkelabel, Universitätsdozenten verdingen sich zum Ausgleich als DJs und Castingagentinnen gründen in der Nachbarschaft Urban Gardening Gruppen und veranstalten Flohmärkte zur Stadtviertelbelebung.⁸ Sharing-Economy-Konzepte, Do-it-yourself und Reparaturökonomie, eigenmächtig kreativ-gestaltende Aneignungen des öffentlichen Raumes, und die damit verbundenen integrierenden Wirkungen auf das soziale Zusammenleben sind Ausdrucksformen dieses kulturellen Milieus, das zu seiner Entfaltung ein kulturell vielfältiges und auch eigenständig gestaltbares urbanes Umfeld benötigt.
Place matters.
Als die steirische Landesregierung vor einigen Jahren aus Überlegungen der Standortsicherung eines an chronischem Studentenmangel leidenden Fachhochschulstandortes in der kleinen Bezirksstadt Kapfenberg die Absicht hatte, Kreativstudiengänge aus Graz abzuziehen und nach Kapfenberg zu verlagern, hatte das einen wilden Proteststurm sowohl der Studierenden als auch der Lehrenden aus Graz zur Folge.⁹ Man wollte keinesfalls „in Kapfenberg vertrocknen“¹⁰, denn „dort gibt es fast nichts außer dem Bahnhof“¹¹. Die Politik musste am Ende einsehen, dass man kreative Köpfe nicht dazu zwingen kann an Orte zu gehen, die nicht ihren Lebensvorstellungen entsprechen und ließ das Vorhaben schließlich fallen. Es spielt aber nicht nur die Vielfalt der urbanen Kulturen, sondern auch das geistige und politische Klima eines Ortes eine wesentliche Rolle bei der Frage, wo Kreative leben wollen.
Kreative meiden Orte, die nicht tolerant sind.
Nationalismus, kulturelle und geistig enge gesellschaftliche Ordnungen, die die Meinungs- und Glaubensfreiheit einschränken, hegemoniale oder gar theokratische Züge aufweisen, stark diskriminierend gegenüber Minderheiten aber auch gegenüber von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Lebens- und Ausdrucksformen sind, bieten Kreativen nicht die Lebensbedingungen einer offenen Gesellschaft die sie brauchen. Darauf rekurriert Richard Florida, wenn er die Sichtbarkeit der Gay- und Lesbian-Community als einen Indikator für die Attraktivität einer Stadt für Kreative heranzieht. Denn darin manifestieren sich auch generell politisch vorherrschende Strukturen. Was in Wien, Berlin oder San Francisco selbstverständlicher Teil der Gesellschaft ist, führt in Moskau, Abu Dhabi, oder Montgomery/Alabama beinahe zu Panikattacken innerhalb der politischen Kaste.¹²
Kreative gehen an Orte mit Demokratie, Meinungs- und Medienfreiheit.
Diktatur, Autokratie, Kontrolle der Medien und Einschränkungen der Meinungsfreiheit stehen der dynamischen freien Entfaltung von Kreativität natürlicherweise im Weg. Zwar entwickeln sich gerade in staatlich stark kontrollierten Gesellschaften oft auch besonders kreative Formen der Unterwanderung der staatlichen Kontrollsysteme. Von der Samistat-Bewegung des früheren Ostblocks über das USB-Stick-Netzwerk „El paquete semanal“, das die staatliche Internetzensur auf Kuba durch die wöchentliche Hand zu Hand Weitergabe von Datenpaketen mit Nachrichten und Filmen unterwandert, bis hin zu Netzaktivisten, die die Internetkontrolle in China oder Russland auf elektronischem Weg umgehen: Diese Formen von kreativem zivilen Widerstand fördern zwar die Solidarität innerhalb der betreffenden Gruppen, es fehlt ihnen aber das nötige Freiheitsmoment, um darauf weit in den Alltag und letztlich auch in die Wirtschaft dieser Gesellschaften hineinreichende Innovationen und kreative Austauschprozesse aufbauen zu können.
Darüber kann man auch mit viel Kapitaleinsatz und zentraler staatlicher Planung international „eingekaufte Kreativität“ nicht wirklich hinweg täuschen. Zwar mag es für vereinzelte Architekten reizvoll erscheinen, ganze Stadtteile oder gar Städte masterplanmäßig und ohne die lästigen Hindernisse mühsamer Bürgerbeteiligungsverfahren westlicher Demokratien umsetzen zu können. Aber mit solchen Retortenkonzepten von China bis zu den Golfstaaten ist es bis dato nicht wirklich gelungen, eine dynamische vielschichtige kreative Szene an diesen Orten zu etablieren. In sterilen Marmor- oder Glaspalästen entfaltet sich keine brodelnde und dynamische kreative Community.
Architektur-, Stadtplanung und Stadtentwicklungspolitik spielen bei der Entwicklung kreativer Milieus eine ganz zentrale Rolle. Aber anders als sich das masterplanverliebte Stadtentwickler, aber auch manche von ihren umfassenden Gestaltungskonzepten überzeugten Architekten vielleicht denken würden. Die sterile Leblosigkeit der gescheiterten Experimente vieler dieser vermeintlich großen Würfe zentral gesteuerter Stadtteilentwicklungskonzepte kann man auch in zahlreichen Städten demokratischer Länder besichtigen. Von der Hafencity in Hamburg über La Défense in Paris bis zur Seestadt Aspern in Wien. Da kann man ihnen noch so gut zureden: Kreative ziehen dort einfach nicht hin.
Kreative wollen die Stadt, in der sie leben, auch selbst gestalten können.
Denn sie suchen Räume, die sie selbst mit ihren Ideen gestalten und laufend neu überformen können.
Gerade die über viele Jahrhunderte gewachsenen Stadtkerne vieler europäischer Städte bieten hier eine Art natürlichen Biotopschutz für kreative Lebenswelten. Solche Strukturen verändern sich kleinteilig und entziehen sich großangelegten Masterplänen. Es sei denn, man reißt gleich ganze alte Stadtviertel nieder.
Damit bieten sie auch den Raum für kleinteilige kreative und ökonomische Experimente und auch für eine vielschichtige, diverse sich ständig wandelnde Kulturszene. Denn Multikulturalität in jeder Form der Bedeutung dieses Wortes ist auch eine der wichtigsten Inspirationsquellen für kreative Prozesse.
Aus der Perspektive eines europäischen Optimisten sei deshalb die Prognose gewagt: Gerade europäischen Kulturstädten in offenen toleranten demokratischen Gesellschaften könnten diese Entwicklungen in den nächsten Jahren im Wettlauf um die Kreativen besonders zu Gute kommen. Könnte: Wenn auch eine entsprechend kluge Politik gemacht wird der es gelingt, diese offene, pluralistische, tolerante und demokratische Gesellschaft zu wahren.
Der Autor
Hansjürgen Schmölzer ist Kulturunternehmer, Journalist und Dokumentarfilmer. Er ist Chefredakteur und Herausgeber des Kulturmagazins CREATIVE AUSTRIA und beschäftigt sich als Fernsehjournalist und Dokumentarfilmer mit soziokulturellen, kultur- und zeitgeschichtlichen Themen. Als Kommunikationsberater war er für die Marketing- und Kommunikationskonzepte von zahlreichen
internationalen Kulturgroßprojekten verantwortlich (Graz 2003, Linz 2009, Wiener Mozartjahr, Haydnjahr 2009 etc.) Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit dem Staatspreis Marketing und dem Globe Award für das weltweit bestkommunizierte Kulturprojekt (Graz 2003) ausgezeichnet.
1 Klaus Wowereit in einem Interview in Focus Money, 6. November 2003. 2 Richard Florida: The Rise of the Creative Class. New York: Basic Books 2002; Richard Florida: The Rise of the Creative Class Revisited. 2. vollkommen überarb. Aufl. New York: Basic Books 2014. 3 Vgl. Yigit Evren, Zeynep Merey Enil: Towards a creative city. Online URL: http://www.mmnieuws.nl/article/ towards-a-creative-city/ 2012; http://www.dazeddigital.com/artsandculture/article/24724/1/10-creative-ci ties-to-leave-the-country-for (Stand: 09.09.2016). 4 Vgl. US Department of Labor, Bureau of Labor Statistics, Occupational Employment Statistics (OES) Survey, 2010. Online URL: http://www.bls.gov/oes/. Analyse von Kevin Stolnarik. Zitiert nach Florida, 2014. 5 Vgl. Ralf Dahrendorf: Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart: Enke 1957, insbes. S. 231. 6 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, insbes. S. 31, S. 162. 7 Vgl. Hansjürgen Schmölzer: Living Cultures and Creative Societies – Mobile Creatives and policies to attract these people, Case Study Creative Austria. In: UNWTO/UNESCO Conference Report. Tourism and Culture – Building a New Partnership, Siem Reap 2015, S. 82f. 8 Die genannten Beispiele stammen alle aus dem persönlichen Bekanntenkreis des Autors. 9 Online URL: http://derstandard.at/3032420/Kampf-um-Kapfenberg (Stand: 09.09.2016). 10 Online URL: http://wittenbrink.net/lostandfound/in-kapfenberg-v/ (Stand: 09.09.2016). 11 Online URL: http://diepresse.com/home/bildung/bildungallgemein/331685/StudentenMangel_Ungelieb te-FH-Kapfenberg (Stand: 09.09.2016). 12 Das Webportal http://www.spartacusworld.com/gaytravelindex.pdf erstellt jährlich eine weltweites Gay-Travelindex Länderranking, das 14 Kriterien bewertet und eine erstaunlich hohe Korrelation aufweist.