Finger weg! – 50 Jahre steirischer herbst / Graz

22.09. – 15.10.2017; Graz.
steirischer herbst: Auch nach 50 Jahren noch gefährlich.

Was wäre Graz ohne den steirischen herbst? Seit 50 Jahren verpasst das Festival der Stadt eine jährliche geistige Frischzellenkur.

Die Kraft des steirischen herbst rührt von seinen Anfängen: Seine Gründung war Ergebnis eines Selbstermächtigungsprozesses. Es war eine Zeit, in der man Graz zu Recht als eine Stadt der Avantgarde bezeichnen durfte. Angeregt durch die beachtliche Resonanz, die die Dreiländerbiennale trigon Anfang der 60er Jahre fand und befeuert von der Dynamik, die sowohl im Kunst- als auch im Literaturbereich von Einrichtungen wie dem Forum Stadtpark oder der Neuen Galerie ausgegangen ist, formierte sich eine Gruppe aus Vertretern der Grazer Kulturszene, die mehr wollte als bloß eine biennal stattfindende Kunstschau. Die bestimmenden Persönlichkeiten wie Wilfried Skreiner, Emil Breisach, Günter Waldorf oder Alfred Kolleritsch versammelten rasch eine höchst virulente Gruppe an Künstlern aus den verschiedensten Sparten um sich. Und sie fanden im weltoffenen ÖVP-Kulturpolitiker Hanns Koren ein ideales politisches Gegenüber, der das Festival auch gegen den Widerstand aus den eigenen politischen Reihen förderte.

In den ersten Jahren wurde das Festival von einem mehrköpfigen Direktorium geleitet. Die Mitglieder des Direktoriums fungierten gleichzeitig als Scharniere zu jenen Grazer Kultureinrichtungen, die die einzelnen Programmbeiträge produzierten. Das Forum Stadtpark, das Schauspielhaus, die Grazer Oper, Neue Galerie und auch der ORF, der das Musikprotokoll im Rahmen des steirischen herbst ausrichtete, waren von Anfang an dabei. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr freie Kultureinrichtungen in das Programm eingebunden – Haus der Architektur, Manuskripte, Camera Austria, Literaturhaus Graz etc., denen der steirische herbst jährlich eine internationale Bühne für ihre Arbeit bot. Der steirischer herbst ist der wesentliche Katalysator dafür, dass es in Graz eine für die Größe dieser Stadt so außergewöhnliche Dichte an professionell auch auf internationaler Ebene agierenden Kultureinrichtungen gibt.

Die wilden Anfangsjahre

Die Anfangsjahre des Festivals waren von zahlreichen hitzigen öffentlichen Diskussionen und „Skandalen“ geprägt. In der damaligen Zeit war es allerdings schon ausreichend, ein Plakat, auf dem ein Mann seine Hose – ja was eigentlich? hinunter? hinauf? – zieht zu zeigen, um einen wilden öffentlichen Proteststurm in der Grazer Bevölkerung auszulösen.

Es waren aber nicht diese regionalen Aufgeregtheiten, die dem Festival seine internationale Bedeutung verliehen. Es war vielmehr die Tatsache, dass der steirische herbst das erste Vielspartenfestival in Europa war, das in allen Bereichen künstlerische und gesellschaftspolitische Positionen auf der Höhe der Zeit sowohl zeigte als auch fundiert zur Debatte stellte:

Man spricht eben anders über zeitgenössische Musik beispielsweise von Ligeti oder Krenek, die beim steirischen herbst wichtige Uraufführungen hatten, wenn diesen ein Symposion „Über Musikkritik“ mit Theodor W. Adorno voran stellt. Wolfgang Bauers Theaterstück „Gespenster“ regte in seiner, die traditionellen Formen der Theaterdramaturgie negierenden Weise, nicht nur das Konventionen gewohnte Publikum auf, sondern forderte auch das Feuilleton heraus. Von Graz ging ein intellektueller Sex-Appeal aus, der auf ganz Europa ausstrahlte und alle Bereiche umfasste: Literatur, Theater, Bildende Kunst, Performance, Architektur, Musik, Tanz.

Das machte das Festival sowohl für Künstler als auch für das internationale Feuilleton attraktiv: Man schaute nach Graz. Und man wollte dort dabei sein.

Mit zunehmender Dynamik und Größe des Festivals schien eine Festivalplanung durch ein Kollegialgremium nicht mehr machbar. Anfang der 80er Jahre wurde daher mit Peter Vujica, der erste Intendant für das Festival bestellt. In dieser Zeit begann der steirische herbst auch zunehmend den öffentlichen Raum der Stadt zu erobern: Das von Werner Fenz kuratierte Projekt „Bezugspunkte 38-88“ sorgte einmal mehr für heftige Auseinandersetzungen, als Hans Haackes Installation „Und ihr habt doch gesiegt“ von Neonazis angezündet wurde.

Die Nomadologie der 90er

Horst Gerhard Haberl, Vujicas Nachfolger als Intendant Anfang der 90er Jahre, proklamierte gemeinsam mit seinem Dramaturgen Peter Strasser, die „Nomadologie der 90er“. Der Gaunerzinken auf der Aufmacherseite dieses Beitrages war auch das Plakatsujet des steirischen herbst 1994. Zinken sind Geheimzeichen des „fahrenden Volkes“ und gehen bis ins Mittelalter zurück. Das Zeichen ist eine Warnung und bedeutet: „Finger weg von diesem Haus, hier könnte es für einen Eindringling gefährlich werden.“ Haberl und Strasser sahen in ihrer Analyse und Auseinandersetzung über die zunehmende Mobilität der Weltbevölkerung und ihre gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen Entwicklungen voraus, die erst Jahre und Jahrzehnte später richtig virulent werden sollten. Von „Avantgarde“ zu sprechen, war damals aber schon verpönt. Auch der steirischer herbst selbst war in diesen Jahren nomadisierend. Mangels eigener Spielstätten entdeckte der herbst Jahr für Jahr neue Räume in der Stadt für teils spektakuläre Projekte: Maschinen- und Hochspannungsgeneratorenhallen, Straßenbahnremisen etc.. Haberl suchte die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum und den damit verbundenen öffentlichen Diskurs in besonderem Maße und bescherte Graz zahlreiche Kunstprojekte, die heute noch den Stadtraum prägen: Vom „Lichtschwert“ Hartmut Skerbischs neben der Oper bis zum sogenannten „Rostigen Nagel“, Serge Spitzers Brunnenwerk im Stadtpark.

Unter Haberls Nachfolgerin in der Intendanz, Christine Frisinghelli wurde ein Rückzug des steirischen herbst in einen deutlich kunstimmanenter geführten Diskurs spürbar. Zwar konnten Projekte wie Christoph Schlingensiefs „Chance für Graz 2000“, bei der er die Stadt zur Sandlerhochburg Europas erklärt hatte, durch das Bedienen einfacher Reiz-Reaktionsschemata immer noch verlässlich für Empörung sorgen. Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung, Uwe Mattheis hat es damals die „verlässliche Dummheit der österreichischen Rechten“ genannt. Es wurde aber klar, dass die Zeit in der es die Kunst war, die Konventionen brechen und die großen gesellschaftspolitischen Fragestellungen aufwerfen konnte, de fakto vorbei war. Nicht nur in Graz natürlich.

Diesem Zeitenwandel setzte Frisinghellis Nachfolger Peter Oswald das entgegen, wovon er Zeit seines Lebens im Überfluss besaß: Begeisterungsfähigkeit. Oswald, der in diesem Sommer überraschend und viel zu jung verstorben ist, verstand es, Jeden und Jede für seine Projekte zu Begeistern. Mit seinem Überschwang gelang es ihm gemeinsam mit Eberhard Schrempf und Architekt Markus Pernthaler auch private Investoren davon zu überzeugen, die Helmut-List-Halle zu bauen, die zum Aufführungsort einiger der bemerkenswertesten Musikprojekte der vergangenen Jahrzehnte werden sollte. Die Finanzkonstruktion hinter der Helmut-List-Halle hätte den steirischen herbst allerdings fast in den Konkurs geführt.

Dass neue Technologien nicht nur eine Bedrohung darstellen müssen, sondern auch neue Chancen und Arbeitsfelder für soziale und nachhaltige Arbeit öffnen können, untersucht das Projekt „Neue Arbeit. Neues Design” der Stadtfabrik.

Where Are We Now?

Ganz dem Zeitgeist der Aufweichung der Genregrenzen entsprechend, standen bei Oswalds Nachfolgerin Veronica Kaup-Hasler, die das Festival nun seit 12 Jahren leitet, eine Vielzahl transdisziplinärer Projekte im Mittelpunkt des Festivals, die sich auch der Erörterung ganz praktischer gesellschaftspolitischer Fragen des Alltags mit den Mitteln der Kunst widmeten. Man könnte sagen: Der steirische herbst ist mitten im Leben angekommen.

Ein „Festival-Leben“, über das es unerschöpflich viele Geschichten zu erzählen gibt. Das Festival trägt dem Rechnung und hat auf seiner Homepage einen „Jubiläumsblog“ eingerichtet, der jeden einlädt, seine ganz persönlichen herbst-Erinnerungen darin beizutragen. Gemeinsam mit einem umfassenden Onlinearchiv, das zum 50-Jahr Jubiläum aufbereitet wird ist es ein mehr als lohnenswerter Fundus für Freunde des Festivals um darin herum zu stöbern und auf zahlreiche Fundstücke zu stoßen, die heute um nichts weniger aktuell sind als in der Zeit, in der sie entstanden sind.

INFO

steirischer herbst ´17
Where Are We Now?"
22.09. 15.10.2017
Eröffnung: 22.09., 19:30 Uhr

Nature Theater of Oklahoma:
Die Kinder der Toten - von Elfriede Jelinek
15.09.  15.10.2017
Treffpunkt: VAZ Mürzer Oberland, Neuberg an der Mürz


50 Jahre steirischer Herbst

50 Jahre, 5 Knotenpunkte
Ein Audiowalk mit sinnlichen Erlebnissen
24.09.  14.10.2017
Festivalzentrum im Palais Attems, Graz

herbstbuch 1968 - 2017
Präsentation des Buches: 27.09.2017, 19:30 Uhr, Forum Stadtpark, Graz

www.steirischerherbst.at